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Sie haben beide viele Jahre in der Gaming-Industrie, im Gamification-Umfeld gearbeitet. Ist die Spieleentwicklung nicht spannender?

Jörg Niesenhaus: Aus meiner Sicht ganz und gar nicht. Die Industrie bietet häufig komplexe und sehr kontextspezifische Problemstellungen. Diesen spielerisch zu begegnen, bereitet mir persönlich große Freude, da man stets mit neuen Herausforderungen konfrontiert wird und sehr viele unterschiedliche Arbeitskontexte kennenlernt.

Roman Rackwitz: Ich habe nie verstanden, dass in der gesamten Menschheitsgeschichte – bis heute – das Spielen als eine der Urformen menschlichen Verhaltens zwar anerkannt ist, man jedoch glaubt, dies hätte keinerlei Platz im beruflichen Umfeld. Ich bin davon überzeugt, dass es nur zu unserem Vorteil sein kann, wenn es uns gelingt, den menschlichen Geist auf eine ähnliche Art und Weise auch im Arbeitsalltag zu fordern und fördern, um all die Herausforderungen der Menschheit in der Zukunft auch bewältigen zu können.

Was kann der Industrieanwender von den Spielewelten lernen?

Niesenhaus: Spielerische Ansätze bieten ein hohes Motivationspotenzial, welches wir im Arbeitsleben leider bisher selten nutzen. Der spielerische Blick auf Arbeitsprozesse hilft uns dabei, stärker auf Nutzerbedürfnisse einzugehen und die Prozesse neu zu ­denken, um sie attraktiver zu gestalten. Außerdem sind Spiele sehr gut darin, uns neue Dinge beizubringen; wir lernen also hervorragend, wenn wir spielen. Auch diese Erkenntnis kann man sehr gut in der Industrie anwenden, um Nutzer für komplexe Aufgaben zu schulen, indem man virtuelle Trainingsmöglichkeiten schafft, in der sich die ­Mitarbeiter ohne Angst vor kritischen Fehlern mit der Materie auseinander­setzen können.

Was bedeutet Gamification in Bedienwelten in der Industrie – spielen an der Maschine?

Rackwitz: Im Gegensatz zu Ansätzen wie Serious Games oder Simulationen werden beim Einsatz von Gamification keine eigenständigen Spiele entwickelt, sondern nur einzelne Elemente von Spielen in den Unternehmenskontext übertragen, beispielsweise also in die Interaktion mit einer Maschine. Das führt dazu, dass komplexe Sachverhalte intuitiver begreifbar werden. Außerdem erscheinen selbst eher monotone oder repetitive Aufgaben in solch einem Kontext nicht als unerwünscht, sondern werden als Teilweg zur Lösung gesehen und somit als positiv empfunden. Die Interfaces in den Industriebetrieben liegen leider viele Jahre hinter dem, was die Spieleindustrie längst weiß und erfolgreich anwendet – das klingt zunächst bedauerlich, ist aber auch eine riesige Chance. Denn im Gegensatz zum reinen Spiel wird Gamification dafür eingesetzt, dass sich ein Mensch fokussierter und immersiv mit der Bedienung beispielsweise einer Maschine auseinandersetzt – nicht etwa, um sich davon abzulenken.

Wer verantwortet die Anbindung der Bedienwelt an die Steuerung?

Rackwitz: Je nach Kontext entwickeln wir bei Centigrade in Zusammenarbeit mit den Ingenieuren, Designern und Softwareteams der Maschinen- und Anlagenbauer die Bedienoberflächen. Bei der Gestaltung von Interfaces für ein Maschinenpanel teilen wir uns die Arbeit oft so ein, dass wir uns um die Oberflächenlogik kümmern, aber auch unsere Kunden dabei unterstützen, diese an die Maschinen­daten anzubinden. Für technikaffine Leser: Wir arbeiten nach dem MVVM Pattern, bei dem das Datenmodell der Anwendung komplett abgekoppelt ist von dessen visueller Darstellung.

Wie wird denn eigentlich der Erfolg einer Bedienoberfläche gemessen?

Rackwitz: Die Grundlage für Interaktionen zwischen Mensch und Maschine ist letztlich immer ein Interface. Dieses sollte im Idealfall keine Monotonie oder repetitive Tätigkeiten aufkommen lassen, da dies oft die Hauptgründe für menschliche Unaufmerksamkeiten sind. Oft werden Bedienoberflächen jedoch, unter der Prämisse von Effizienz, CI und Einfachheit, genau auf diese Charakteristiken hin entwickelt. Dabei wollen wir Werten wie Effizienz und Wiedererkennung gar nicht ihre Wirksamkeit absprechen. Aber sie kommen auch mit ein paar Opportunitätskosten. Nur wer beide Seiten kennt, kann hier den effektivsten Weg finden. Für die Erfolgsmessung solcher Bedienoberflächen gibt es nationale und internationale Standards. Diese sind offen für jeden einsehbar. Daran muss man seine Arbeit messen lassen.

Sind Bedienoberflächen vertriebsrelevant?

Niesenhaus: Benutzerschnittstellen können, wie bereits angedeutet, viele Ziele erfüllen – von der Kaufentscheidung bis zur Effizienzsteigerung in den Arbeitsprozessen. Natürlich gibt es Systeme, die sich vor allem aufgrund ihres User Interfaces verkaufen, aber eine gute Bedienbarkeit wird immer mehr zum Hygienefaktor: Erst wenn eine Benutzerschnittstelle nicht so funktioniert, wie sich die Nutzer dies wünschen, fällt dies negativ auf.

Rackwitz: Im besten Fall, bei einem wirklich guten Interface, erwächst eine positive emotionale Einstellung aus einem ­großartigen Bedienerlebnis mit messbarer Effizienzsteigerung – dann hat der Vertrieb eine doppelte Motivation, sich für dieses Interface zu entscheiden.

Werden die Mitarbeiter zu Spaß an der Maschine verführt, zu Mehrarbeit verführt?

Niesenhaus: Partizipation der späteren Nutzer an der Entwicklung ist der Schlüssel zum Erfolg. Aber dass die Benutzerschnittstellen mit oder ohne Gamification so verführerisch sind, dass die Leute Mehrarbeit tätigen, glaube ich nicht. Wir glauben eher daran, die bisherige Arbeitszeit in eine optimalere Erfahrung zu überführen, das heißt, die Nutzer haben ein positiveres Gesamterleben und fühlen sich angenehm herausgefordert, ohne dies als Belastung zu empfinden.

Rackwitz: „Zu Spaß verführt“ finde ich gut. Ich wüsste nicht, dass das geht. Jedenfalls solange man verführt so versteht, dass „jemand etwas tut, was er eigentlich nicht wollte“. Gamification führt, wenn es richtig eingesetzt wird, durchaus dazu, dass die Mitarbeiter mehr Spaß bei der Arbeit haben. Dies funktioniert jedoch ausschließlich durch konsequentes Gestalten im Sinne der Emotion Spaß. Und da niemand zum Spaß gezwungen oder überredet werden kann, ist hier eine Gestaltung gegen den Willen der Nutzer einfach nicht möglich. Auch „Mehrarbeit“ ist kein Ziel, das wir verfolgen würden – Mitarbeiter sollen nicht etwa länger am Arbeitsplatz sein, sondern die Möglichkeit haben, mehr Freude bei der Ausübung ihrer Arbeit zu empfinden.

Braucht es einen Bedienoberflächen-Standard?

Niesenhaus: Die Industrie und ihre Herausforderungen sind so vielfältig, dass wir nicht glauben, alle mit einem Standard erschlagen zu können. Software-Frameworks haben sicherlich ihre Berechtigung, aber wir sind der Überzeugung, dass auf Ebene der Benutzerober­fläche nur maßgeschneiderte Lösungen zum Erfolg führen.

Rackwitz: Noch mal aus Nutzersicht: Was würden wir aufgeben, wenn alles gleichförmig wäre? Stellen Sie sich vor, die Spieleindustrie wäre diesem Irrtum in der Vergangenheit erlegen und hätte, zum Beispiel, nach dem Erfolg von Space Invaders, damals gesagt, man lege jetzt Standards für Visualisierungen und Steuerung fest. Wir hätten eine Menge guter Spiele und Fortsetzungen verpasst. Gerade die Vielfalt und Veränderung ist es, die ganz verschiedene Spielertypen anspricht, so wie es auch verschiedene Nutzertypen von Software in Unternehmen gibt. Selbst innerhalb einzelner Spielreihen gibt es große Änderungen, die es attraktiv machen, ein ganz ähnliches Spiel erneut zu kaufen und zu nutzen.

Was sind Trends für Bedienoberflächen?

Niesenhaus: Wir erleben aus technischer Sicht einen starken Trend hin zu webbasierten Frameworks – unabhängig, ob daraus eine cloudbasierte oder lokale Anwendung entsteht. Darüber hinaus gibt es wieder eine Bewegung hin zu mehr Details und räumlicher Darstellung, nachdem eine Zeit lang probiert wurde, alles möglichst flach zu halten. Generell sehen wir viel Bewegung im Bereich von 3D-Echtzeitdarstellungen in User Interfaces.

Sind Sprachlösungen in Zukunft die besseren Oberflächen?

Rackwitz: Also erst einmal, selbst wenn irgendwann alles nur noch über Sprache gesteuert werden sollte, dauert es noch sehr lange, bis es soweit ist, dass dies auch fehlerfrei im arbeitstechnischen Umfeld eingesetzt werden kann. Zweitens sind wir hier wieder beim Thema Kontext. Es wird perfekte Anwendungsfelder für Sprachsteuerung geben und es wird Bereiche geben, wo es einfach nicht funktioniert.

Niesenhaus: Multimodale Benutzerschnittstellen gibt es schon lange und ich glaube daher eher an eine sinnvolle Verknüpfung dieser unterschiedlichen Interaktionsparadigmen. Sprachinteraktion mag in einigen Fällen sinnvoll sein (wenn man die Hände frei haben will), aber in vielen sicherheitsrelevanten Umgebungen (von denen es in der Industrie zahlreiche gibt) ist die sprachbasierte Interaktion nicht sicher und verlässlich genug. Sie könnte daher eher als Unterstützung in spezifischen Nutzungsszenarien angewendet werden.