Die Fabrik und die Menschen lernen
Autofabriken werden heute nur noch selten in Deutschland eröffnet. Die jüngste Fabrik steht in Aachen. Bei e.GO setzen die Verantwortlichen auf volle Datentransparenz in der Produktion. Am 1. März muss alles laufen. Werksleiter Dr. Bastian Lüdtke gewährt einen Einblick in die Vorserienproduktion.
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Bastian Lüdtke ist ein ruhiger, analytischer Mensch. Er ist promovierter Wirtschaftsingenieur von der RWTH Aachen und steht vor der größten Aufgabe seiner jungen Karriere. In weniger als 100 Tagen muss der erste Elektrokleinwagen e.GO Life aus Aachen „sein“ Werk verlassen. Er ist Werksleiter der e.GO Mobile AG in Aachen. Die Kunden warten ungeduldig, manche haben das Auto sogar blind im Internet bestellt. „Wir haben keine firmeneigenen Vorerfahrungen, keine Voranläufe“, berichtet Lüdtke nüchtern. Autobauen aus dem Nichts. Aufgeregt? „Aufregung herrscht vor allem bei der Frage, wer den ersten Wagen bekommt“, erklärt Lüdtke und grinst dabei. e.GO ist Lüdtkes erster Arbeitgeber, sein ehemaliger Doktorvater Prof. Dr. Günther Schuh ist jetzt sein Chef. Für viele bei e.GO ist es das erste Mal, dass sie ein völlig neues Auto entwickeln und bauen – in der Konstruktion, im Einkauf, am Band oder in der Logistik. Doch Lüdtke und seine Kollegen sind sich sicher: „Den Anlauf kriegen wir hin.“ Vielleicht auch deshalb, weil zunächst einmal 45 Stück pro Schicht gebaut werden sollen. „Darüber lachen die großen Autobauer.“
Der e.GO Life war eine Vision, eine Wette auf die Zukunft und ist jetzt zur Realität geworden – ein bezahlbares, viersitziges Stadtauto mit Elektroantrieb, gebaut in Deutschland, das auch noch Spaß machen soll, mit dicken Reifen für das Gokart-Feeling. Darüber lachen die großen Autobauer heute nicht mehr. Und Bastian Lüdtke und seine Kollegen sind zufrieden.
Die Vorserienproduktion läuft seit einigen Wochen. Die Fabrik und die Menschen lernen. „Ein Elektroauto zu bauen, ist weniger komplex als ein Verbrennermodell“, berichtet der Werksleiter. Viele Mitarbeiter sind ehemalige Kfz-Meister oder -Gesellen, die e.GO in der Region Aachen angeworben hat und die jetzt den Kleinwagen zusammenschrauben. Über 40 Angestellte in der Montage sind es mittlerweile. Zahlreiche Displays an den Stationen visualisieren Arbeitsschritte und Fertigungsdaten. Die Philosophie: Ein gutes Bild ist besser als jede Erklärung. „Datentransparenz auch gegenüber den Mitarbeitern ist uns wichtig.“ Mehr als 650 Teile müssen verbaut werden. „Wir fertigen an sich klassisch in der Linie mit 28 Stationen.“ An diesen Stationen werden so über 1.000 Varianten erzeugt. Theoretisch sind noch viel mehr Varianten möglich.
Dr. Bastian Lüdtke
Roboter, Cobots, automatische Kleinteilelager? Weitgehend Fehlanzeige bei e.GO – Roboter schweißen im benachbarten Karosseriewerk, aber in der Fertigung geben Menschen den Takt an. „Unser 4.0 ist die schlanke Fertigung und die Datendurchgängigkeit von der Entwicklung über den Einkauf, die Fertigung bis zum Endkunden“, erklärt Lüdtke. Roboter würden sich momentan bei e.GO noch nicht rechnen. Doch die Aachener sammeln Daten an allen Prozessschritten bei der Entstehung des Fahrzeugs. „Wir haben keine Redundanzen in den Daten“, erklärt Lüdtke. Altbestände in den Datensätzen kennen die e.GO Planer nicht. Die Fabrik ist ein Greenfield-Projekt und das erleichtert die Arbeit. Die Batterien lagern bei e.GO im Bunker, denn Lithium-Ionen-Batterien sind schwer zu löschen. Grundsätzlich setzen Autobauer darauf, möglich wenig zu lagern und so eine Just-In-Sequence(JIS)-Belieferung sicherzustellen. Die Antriebseinheiten werden in eigenen, kleinen Vormontagestraßen am Band konfiguriert und dann in der Montagelinie eingesetzt. „Die Vormontagelinie haben wir beispielsweise mit einem unserer Zulieferer gemeinsam entwickelt“, erklärt Lüdtke. Auch an dieser Stelle sammelt er natürlich Daten über den Montageprozess. „Wir haben eine Datendurchgängigkeit vom PLM-System über das ERP hin zum WMS und MES. Unser Ziel ist es, die Entwicklungsstückliste effizient zur Fertigungsstückliste ohne Datenredundanzen und Systemschnittstellenbrüche umzuwandeln.“ Diese wird dann an das ERP automatisch übergeben.
Das Ende der Datensilos
Dafür brauchte es Schnittstellen – alles individuell konfiguriert. Lüdtke steht vor einer riesigen Videowand, auf der er Datenauswertungen aus allen Bereichen auf Knopfdruck bekommt. „In der Vergangenheit haben drei bis vier Leute Wochen an der Umwandlung der Stücklisten und der Aktualisierung der Prozessbeschreibungen gearbeitet. Heute erfolgt das durch die Datendurchgängigkeit in den normalen Arbeitsabläufen.“ Die Datensilos sind bei e.GO verschwunden, ein Traum vieler Unternehmen. „Wir sind eine lernende Fabrik, die uns zeigt, wie sie arbeitet. Wir können Prozesse schnell verändern und wenn wir feststellen, dass wir einen Roboter an der Montagelinie brauchen, dann implementieren wir ihn. Die Daten geben uns die richtigen Antworten“, gibt sich Lüdtke selbstbewusst. Bei e.GO will man Probleme in der Fertigung dank der Datentransparenz früher als Wettbewerber erkennen. „Und die Datendurchgängigkeit ermöglicht es uns, dem Endkunden neue Produkte oder Services bei unserem lokalen Partner Bosch anzubieten oder schneller auf Probleme zu reagieren.“ Doch ganz ohne Automatisierung kommen Lüdtke und seine Kollegen nicht aus. Automatisch gesteuerte FTS ermöglichen die barrierefreie Fabrik. „Elektroautos baut man heute nicht mehr zwanghaft in der Elektrohängebahn, denn wir müssen weniger Arbeitsschritte unter dem Auto durchführen. Das ist beim Verbrenner noch anders.“ Die FTS kommen von SEW Eurodrive. „Die Industrie-4.0-Fertigung von Johann Soder bei SEW hat uns überzeugt“, blickt Lüdtke zurück. Dort versorgen FTS die Montageplätze. Die FTS-Lösung deckt die einzelnen Fahrzeuge, die Energieversorgung, die WLAN-Kommunikation sowie die Navigation und Fahrzeugkoordination ab. Im Boden verlegte Linienleiter ermöglichen eine kontaktlose und damit verschleißfreie und wartungsarme Energieübertragung. Eine präzise Positionierung wird durch bedarfsgerecht im Boden eingelassene Transponder sichergestellt. Die Software aus Bruchsal ermöglicht es e.GO gleichzeitig, die Förderstrecke zu planen, zu simulieren und zu emulieren und für unterschiedliche Streckenabschnitte beliebige Fahrprofile und Fahrverhalten zu parametrieren – für mehr Wachstum, denn Lüdtke und sein Chef Prof. Dr. Günther Schuh arbeiten schon am nächsten Projekt: ein autonom fahrender Kleinbus. Die Daten aus der e.GO Produktion werden den beiden helfen, ihre 4.0-Fertigung auch auf den Kleinbus zu übertragen.
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